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Titel
Milchsuppe oder Blutbad?. Die Reformationskriege in der Zuger Erinnerungskultur


Autor(en)
Briner, Jonas
Reihe
Beiträge zur Zuger Geschichte 17
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
175 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Josefine Langer

Eigentlich hatte die nächtliche Schlacht am Gubel vom 23./24. Oktober 1531 eine eidgenössische Bedeutung. Erst sie sicherte den katholischen Sieg vom 11. Oktober im zweiten Kappeler Krieg. Zudem erinnerte die von den Ägerern angewandte Kriegslist an die Morgarten-Legende. Trotzdem wurde der Gubel ausserhalb des Kantons Zug nie zu einem bedeutenden «Lieu de mémoire». Jonas Briner macht in seinem vorzüglichen Buch aus der Not eine Tugend. Er konzentriert sich auf den Kanton Zug und weicht dabei ab von der in der Forschung vorherrschenden Konzentration auf nationale Erinnerungen. Dafür untersucht er die kantonal beschränkte Erinnerungskultur in ihrer historischen und inhaltlichen Tiefe sowie in ihrer gesellschaftlichen und methodischen Breite. Er analysiert zusätzlich zum katholisch-konservativen, auch das liberale und das reformierte Erinnern. Sein Interesse gilt neben den Inhalten, auch deren Verbreitung, insbesondere den verschiedenen Gedächtnisträgern. Er zeigt die kurzfristig-politische wie auch langfristig-identitäre Funktion des Zuger Erinnerns wie auch dessen inhaltlichen Veränderungen auf.

Wie Erinnerung politisch instrumentali-siert und kurz darauf für Jahrzehnte verdrängt wurde, wird eindrücklich am Beispiel der Jahre vor und der Jahrzehnte nach dem Sonderbundskrieg dargestellt. Am 23. Oktober 1843 fand die bislang einzige überregionale Schlachtfeier statt, an der die Luzerner Konstantin Siegwart-Müller und Josef Leu teilnahmen. Der politische Hauptzweck war es, die zaudernden Zuger Konservativen hinter die Luzerner Konferenzbeschlüsse vom Vormonat zu zwingen. Hier wäre ein Hinweis auf zwei auffällige Unterschiede zu Luzern angebracht gewesen. Während im Zugerland der von konservativen Ultras beherrschte Klerus die gemässigteren Politiker in den Sonderbund trieb, spielten im Luzernischen, wo der Klerus tief gespalten war, Politiker diese Rolle. Im Rahmen der auf dem Gubel gestarteten klerikalen Kampagne kam es 1846 zur Grundsteinlegung für das Kloster Maria Hilf gleich neben der Schlachtkapelle auf dem Gubel. Auch wurde im September 1847 erstmals in der 600jährigen Geschichte der Zuger Landeswallfahrt nach Einsiedeln ein ausserordentlicher «Kreuzgang» gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung durchgeführt.

Briner erklärt sehr schlüssig, warum nach 1847 während drei Jahrzehnten keine Schlachtfeiern mehr stattfanden. Die Idee einer von der Vorsehung begünstigten Schicksalsgemeinschaft war durch die Niederlage im Sonderbundskrieg demen-tiert worden. Das «Bindungs¬ge¬dächt¬nis», das das katholisch-konservative Kollektiv zusammengeschweisst hatte, funktionierte nicht mehr, weil das «Generationengedächtnis» mit der jahrhundertealten Gubel-Botschaft nichts mehr anfangen konnte. Es brauchte eine neue Generation, eine neue Zeit, die des Kulturkampfes und das Wiedererstarken des Ultramontanismus, um die «Gedächtnislücke» wieder zu schliessen. Eröffnet wurde die neue Phase der Zuger Erinnerungskultur durch eine intellektuelle Leistung: die Schrift Der Kampf auf dem Gubel des Priesters und Historikers Franz Xaver Uttinger. Indem der Autor die Ereignisse von 1531 zwar als katholisches Heldenepos schilderte, aber die göttliche Vorsehung ausblendete und auch die protestantischen Opfer würdigte, schuf er eine Grundlage, die besser zu den bundesstaatlichen Gegebenheiten passte.

Dramaturgisch geschickt stellt Briner die allerletzte Radikalisierung der Erinnerungskultur in den frühen 30er Jahren als Anfang deren Ende dar. Der «autoritäre Geschichtspolitiker» Philipp Etter nützte den 400. Jahrestag der Schlacht aus, um die Konservativen für die Nationalratswahlen zu mobilisieren. Die Schlachtfeier, die sich nicht mehr gegen die Reformation, sondern gegen Sozialismus und Moderne richtete, war mit 5000 Teilnehmenden stark besucht. Aber weil die Freisinnigen dagegen Sturm liefen, die Sozialdemokraten protestierten und die Reformierten mit einer eigenen Feier auf dem Kappeler Schlachtfeld auf Distanz gingen, verlor der Gubel seine identitätsstiftende Funktion für den Kanton. Noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte der Zuger Frühliberalismus den lokalpatriotischen Stolz auf den Sieg am Gubel geteilt.

Die Hauptstärke von Jonas Briners Arbeit ist ein hoher Reflexionsgrad. Sie vermittelt nicht nur eine komplexe Erinnerungskultur mit all ihren Veränderungen, die sie seit der Schlacht erlebte. Zusätzlich kontrastiert sie die national-liberale und die katholisch-konservative Historiographie sowohl bezüglich Gubel als auch bezüglich der Reformation und der Glaubenskriege. Und sie vermittelt einen Überblick über den jungen Forschungszweig Erinnerungsgeschichte und überprüft insbesondere deren Begrifflichkeit.

Dieses Oszillieren zwischen stofflicher Frosch- und theoretischer Vogelperspektive führt nicht nur zu neuen und meist starken Antworten. Sie fördert beim Lesenden auch das Stellen eigener, zusätzlicher Fragen. Drei seien hier formuliert: Ist die Tatsache, dass der Gubel nicht zu einem überregionalen lieu de mémoire wurde, nicht auch Ausdruck eines ausgeprägteren Kantonalismus beim katholischen Konservativismus? Könnte für ein besseres Erfassen des Verhältnisses von national-liberaler und katholisch-konservativer Historiographie das Erforschen der Sichtweisen und der Geschichtspolitik von liberalen und freisinnigen Katholiken dienlich sein? Hat die von Philipp Etter dankbar aufgenommene These des Basler Konservativen Andreas Heusler, der katholische Sieg bei Kappel und auf dem Gubel habe die Kontinuität der Eidgenossenschaft garantiert, weil sie eine Übermacht der beiden Rivalen Bern und Zürich verhinderte, nicht einen paradoxen wahren Kern? Es war die Glaubensspaltung, welche im 19. Jahrhundert jener Kraft eine aussergewöhnliche Stärke verlieh, die für das nation building die geeignetste war: dem Liberalismus. Und so wurde de katholische Kriegslist von 1531 drei Jahrhunderte später durch die List der Geschichte wieder aufgehoben.

Das «stille Ende» der Erinnerungskultur, die Verwandlung eines lieu de mémoire in einen non-lieu de mémoire erklärt Briner mit einem Begriff: «Konsumgesellschaft». Da drängt sich die kritische Frage auf: War es nicht eher die Säkularisierung der Gesellschaft, die zwar von der wirtschaftlichen Entwicklung gefördert wurde, aber doch etwas Eigenständiges ist?

Zitierweise:
Josef Lang: Rezension zu: Jonas Briner, Milchsuppe oder Blutbad? Die Reformationskriege in der Zuger Erinnerungskultur (=Beiträge zur Zuger Geschichte 17), Zürich, Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 548-550.

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